
Übermorgen soll während der Berlinale über die Zukunft des Kinos diskutiert werden, unter dem Motto „Hätte ich das Kino!“.
So hieß ein Pamphlet von 1920:
„Es war vor bald neunzig Jahren, 1920, als ein 23jähriger Student namens Carlo Mierendorff dem damaligen deutschen Film mit auftrumpfendem Gestus den Fehdehandschuh hinwarf. Sein Manifest, ein Text von hohem filmhistorischem Rang, heißt „HÄTTE ICH DAS KINO!“ (Quelle). Er schreibt: „Jetzt aber ist alles verbravt, geechtet, arm, weil phantasielos“. Er verlangt: „Es muß versucht werden, an die Massen heranzukommen, soll nicht jeder Versuch hoffnungslos sein, das Dasein zu gestalten.“ “ (Deutsche Filmakademie)
Hans-Christoph Blumenberg wird die Diskussion moderieren und hat schon einmal in einem Essay seiner Leidenschaft für das Kino Ausdruck verliehen.
„Für uns, die wir das Kino immer noch lieben, auch wenn es neunzig Jahre später längst seine Dominanz als führendes Massenmedium verloren hat, sollte Mierendorffs bezaubernde Radikalität mehr sein als ein ferner Spiegel. Auch wenn Tom Cruise noch nie etwas von ihm gehört hat.“ (Hans-Christoph Blumenberg: Wir müssen das Kino haben! In: Tagesspiegel vom 03.02.2008)
Doch Kino und Film sind schon lange nicht mehr die siamesischen Zwillinge der Frühzeit. 6 Jahre nach dem Oberhausener Manifest von 1962, also genau vor 40 Jahren, rief einer seiner Unterzeichner unter der vielsagenden Überschrift „Der Film verläßt das Kino“ dazu auf, die Zwänge der Filmwirtschaft und des Kinos abzuschütteln:
„Könnte es einen Film geben, der eine wirkliche Alternative zu einem guten Beefsteak ist? Könnte es einen Film geben, der eine Alternative zu einem Rendezvous mit einer Freundin wäre? Könnte es einen Film geben, den ich 20 Stunden lang ansehen würde, vorausgesetzt, dass ich selbst bestimmen kann, in welchen Portionen ich diesen Film zu mir nehme und zu welchen Zeitpunkten? Könnte es Filme geben, die ausführliche Antworten geben auf Fragen, die mich bewegen, Filme, die ich mir beschaffe wie Bücher, Nahrung oder einen Urlaub?“ (Edgar Reitz: Der Film verläßt das Kino. In: Film, Nr. 5, Mai 1968, S.1 – Redakteur der Zeitschrift: Werner Kließ – wer sonst!)
Dies war nicht nur einer der hellsichtigsten Aufsätze über die Zukunft des Films („Entertainment Daily“-Blitzmail von gestern: „DVD-Umsatz war 2007 doppelt so hoch wie das Kinoeinspiel“), Edgar Reitz hat seine Pläne von vor 40 Jahren auch in die Tat umgesetzt:

Diedrich Diederichsen zum Film außerhalb des Kinos heute in seiner Berlinale-Kolumne „16 mm diederichsen“ in der TAZ:
„Was eine gefilmte Erzählung leisten kann, zeigen mir 30 Stunden „Deadwood“, 80 Stunden „Sopranos“ oder 50 Stunden „The Wire“ und viele andere, meist von HBO produzierte TV-Serien; die aber kein Mensch beiläufig wie ein TV-Programm konsumiert. Stattdessen berauscht man sich in tagelangen Sitzungen mit DVD-Boxen, die an Lektüreekstasen mit großen russischen Romanen aus dem 19. Jahrhundert gemahnen. Hier wird die Kunst des Erzählens gerade neu erfunden. Sie ist noch lange nicht fertig. Hätte ich in dieser Situation das kurze, kompakte Kino, würde ich von ihm symbolistische Gedichte und anarchistische Aphorismen verlangen, Konvulsionen und Aggressionen, Essays und Impromptus. Wenn HBO heute Flaubert und Tolstoi hervorbringt, will ich vom Kino einen voll entwickelten Baudelaire. “ (Diedrich Diederichsen: „Hätte ich einen Hammer“)