Canyon Cinema vor dem Aus

2. April 2011

Schlechte Nachrichten aus den USA: Canyon Cinema, einer der wichtigsten Vertriebe für Experimentarfilme, ist in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Organisation, die als Kooperative für die vertretenen Filmemacher arbeitet, verwaltet einen Fundus von 3.500 Titeln, die bis in die 30er Jahre zurückreichen. Enstanden ist sie Anfang der 60ger Jahre im Wohnhaus ihres Gründers Bruce Baillie in Canyon, USA. Jetzt hat ihr Geschäftsführer Dominic Angerame die Alarmglocken geläutet.

Wie viele Experimentalvertriebe hat sich auch Canyon Cinema nicht früh genug entscheiden können, ob man seine Filme breit zugänglich machen will, oder lieber im exklusiven hochpreisigen Zirkel der Kunstwelt verweilt. So hatte man an dem Medienbruch der letzten 15 Jahre zu leiden, denn die neuen Möglichkeiten der DVD als Verbreitungsmedium wurden nicht genutzt:

„This is a very serious letter.  It was emailed to our filmmaker members and we would like to share this with the larger community.  It concerns the survival of Canyon Cinema.
As most of you probably know, film rentals over the past few years have been steadily declining. This is a result of the proliferation of digital media. Many of  Canyon’s major filmmakers who have brought substantial income to the organization have now made their work available in digital formats. Many of our renters, especially in universities, no longer have access to adequate film projection. Often after the purchase of a DVD, instructors of cinema studies continue to use the digital media and forsake the renting of the original 16mm prints. This is partly due to their own dwindling rental budgets and the lack of well functioning projectors.“  (Important Message to the Film Community)

Canyon Cinema hatte in den letzten Jahre zwar immer mehr Titel auch auf DVD zugänglich gemacht, zu angemessenen Preisen allerdings nur für individuelle Kunden, nicht für Institutionen. So konnten z. B. Bibliotheken und Videotheken keine Bestände für die individuelle Ausleihe aufbauen – sicherlich ein schwerer Marketingfehler bei der Popularisierung des Experimentalfilms und der Filmavantgarde.

Man kann nur hoffen, dass die Rettung gelingt und Canyon Cinema sich absichern kann, wie andere wichtige Vertriebe auch:

„Here are some specific examples of experimental film distribution companies modeled after Canyon Cinema currently receiving substantial funding. The Film-Makers‘ Cooperative in New York City is currently funded by the Experimental Television Center as well as New York State Council for the Arts. They have also received a life saving donation of free rental space. Light Cone in Paris is funded by several governmental agencies including Le Centre National de la Cinematographie, Le Ministere de la Culture, La Region Ile-de-France and La Ville de Paris. LUX in London is funded by the Arts Council England and the Leverhulme Foundation for Educational Activities. In Canada the Canadian Filmmaker’s Distribution Centre in Toronto is funded by the Canada Council for the Arts, Ontario Arts Council, The Ontario Trillum Foundation and the Toronto Arts Council. In Vienna, Sixpack Film is most generously supported by the Federal Ministry of Art, Culture and Education (Department for Film), City of Vienna – Department of Cultural Affairs,  the Provincial Governments of Lower Austria, Upper Austria and Salzburgh, and the Trade Association for Music and Film industry.“ (Important Message to the Film Community)

Doch Subventionen allein werden nicht helfen, wenn man sein Publikum nicht pflegt und erweitert. Wer seine Filme nur einem kleinen Zirkel, d. h. meist nur in den Metropolen bekannt macht, kann nicht reussieren. Die INDEX DVD-Edition von Sixpack Film zeigt, dass es auch anders geht. Und das Marktangebot ist noch reichhaltiger: Die Website Experimental Cinema gibt einen Überblick.


Val del Omar

4. März 2011

In Spanien ist bei Cameo Media eine umfangreiche Box mit Filmen von Val del Omar erschienen.

Bereits 1999 schrieb das Mainzer Stadtkino anläßlich einer Ausstellung und Filmreihe:

„Val del Omar (1904-1982) ist der bedeutendste spanische Erfinder auf verschiedenen filmtechnischen Gebieten und ein nicht minder bedeutender Filmkünstler, der in der Filmgeschichte bislang nicht angemessen gewürdigt wurde, obgleich er z.B. 1956 seinen Granada-Film mit großem Erfolg bei den Filmfestspielen in Berlin vorstellte und seine Filme in den 50er und 60er Jahren auf allen großen Festivals der Welt gezeigt wurden. U.a. wurde „Fuego en Castilla“ in Cannes prämiert. In Spanien wurde anläßlich der Hundertjahrfeier des Kinos sein Tríptico von der Filmoteca de Andalucía (Andalusische Kinemathek) restauriert und seine Arbeit in umfangreichen Publikationen dokumentiert…
Val del Omars Streben nach Synästhesie entsprach seiner Lebensphilosophie, die holistisch, also ganzheitlich, geprägt war. Dabei spielte seine Herkunft aus Granada, am Schnittpunkt von Orient und Okzident, eine entscheidende Rolle. Sein Leben lang versuchte er künstlerisch und gedanklich Gegensätze und scheinbare Paradoxien mit einander zu verbinden. In seinem Triptico behandelt er Themen wie das Aufeinandertreffen arabischer mit keltischer Kultur, christlichen Vorstellungen mit islamischen Vorstellungen,den Zusammenhang zwischen Leben und Tod oder die Verbindung der universellen Elemente Feuer, Wasser und Erde.

„Val del Omars Ziel war eine Synthese der Wahrnehmung in einem ekstatischen Kino, das Visuelles fühlbar und Hörbares sichtbar macht. Er lehnte das dekorativ Dokumentarische und die narrative Fabel ab. Dabei begab er sich ständig auf das Terrain von Paradoxien (visuelles Gedicht, optische Symphonie, Explosion in Zeitraffer, nicht endende Momente und mystische Technologien), erreichte aber einen Grad der Wahrnehmungssteigerung, der den Zuschauer bezaubert und verzückt. VdO setzte seine technischen Erfindungen ein, um ein – seinem holistischen Weltbild entsprechendes – Kino zu schaffen. Er selbst nannte sein Kino weder „documental“ noch „experimental“,sondern „elemental“.“ (Gonzalo Saenz de Buruaga)  HOMMAGE AN JOSÉ VAL DEL OMAR (pdf)

Zu seinen zahlreichen Erfindungen gehören: der „Sonido Diafonico“ – Stereo und Surround-Ton; Apparaturen zur mehrkanaligen Tongestaltung, auch für Frequenzverschiebungen und Reverbs (analoger Synthesizer); die konkave Leinwand und ein Objektiv mit Brennweitenveränderung (Vorgänger des Zoom); das Breitwandformat bereits vor der Einführung von Cinemascope und die Idee eines Rundumkinos (3-dimensionale Bespielung mit einem „Tetra-Projektor“);  „Tactíl-Visión“, ein Beleuchtungsverfahren für die reliefartige dreidimensionale Wiedergabe von zweidimensionalen Abbildungen auf der Leinwand; Geruchsspender von Szene für Szene.  passenden Düften.

Die ersten drei Discs der Edition enthalten Filme von Val del Omar. Leider ist ein  großer Teil seines Werks, besonders die Dokumentarfilme, die er in den dreißiger Jahren für die spanische Republik gedreht hat, verloren gegangen. Die letzten beiden Discs versammeln Arbeiten über Val del Omar – hier die Titel der Box:

DVD 1: Tríptico elemental de España – Aguaespejo granadino. Vibración de Granada. Estampas 1932. Película familiar. Galería fotográfica de las misiones pedagógicas (Pedagogig missions photo gallery)
DVD 2: Tríptico elemental de España – Fuego en castilla. Fiestas cristianas / Fiestas profanas. Fotografías del rodaje de Fuego en castilla (The shooting of fire in castile photo gallery)
DVD 3: Tríptico elemental de España – Acariño galaico (De barro). Galería de fotos del Tríptico elemental de España (Elementary triptych of Spain photo gallery)
DVD 4: Val del Omar sur-norte (Mario Sáenz De Buruaga). Ojala Val del Omar (Cristina Esteban). Vértice vórtice (Antonella La Sala). Laboratorio Val del Omar (Javier Viver). Val del Omar fuera de sus casillas (Velasco Broca). Collages, Fotomontajes PLAT, Diakinas (Collages, PLAT essays, Diakines)
DVD 5: Tira tu reloj al agua (Eugeni Bonet)

Alle Menüs auf Spanisch und Englisch, die Filme sind englisch untertitelt. Die Box ist bibliophil, oder besser gesagt filmophil, besonders schön gestaltet.


Record Again! 40 Jahre Videokunst Teil 2

25. Oktober 2010

Die Studienedition Record Again! 40 Jahre Videokunst Teil 2 ist jetzt auf 12 DVDs erschienen. Sie macht  die frühe deutsche Videokunstszene wieder sichtbar, die längst in obsoleten Aufzeichnungsformaten unrettbar versunken schien.

Christoph Blase und sein Team  habe diese Werke im sehr exotisch wirkenden Labor für antiquierte Videosysteme – laut ZKM eine „digitale Arche Noah“ wieder auf den Bildschirm gebracht. Zunächst einmal mussten die Abspielgeräte mühsam zusammengesucht und zum Teil selbst erst restauriert werden, bevor man die Bänder auf ihnen abspielen und im Feintuning mit viel Fingerspitzengefühl auf aktuelle digitale Formate übertragen konnte – Genaueres dazu bei Christoph Blase: Vom magnetischen „Altbild“ zum digitalen „Neubild“.

Die Box ist nur für Bildungseinrichtungen beim ZKM-Shop erhältlich. Infos zu Teil 1 hier.


Surveying the First Decade

13. August 2009

In den USA hat Video Data Bank, einer der großen Vertreiber von Experimentalfilmen und Videokunst, seinen alten VHS-Sampler aus den neunziger Jahren jetzt auf DVD herausgebracht. „Surveying the First Decade: Video Art and Alternative Media in the U.S.“ umfasst fast 70 Filme aus der Zeit von 1968 bis 1980, viele davon mit dem Portapak von Sony gedreht, dem ersten transportablen Videorekorder, der eine ganze Alternativkultur des Filmemachens erblühen ließ. Er stand am Anfang einer Entwicklung, die heute mit kleinen Digicams und Webfilmen Alltag ist:

„The entire anthology (Volumes 1 & 2) includes more than 16 hours of historic video: 68 seminal titles by 60+ artists curated into eight programs ranging from conceptual, performance-based, feminist, and image-processed works, to documentary and grassroots community-based genres. The box set is accompanied by REWIND, a 200+ page study guide with curator’s essay, program and tape descriptions, extended bibliography, biographies and videographies of artists and a guide to collections of early video materials.“

Ein Essay aus dem beiliegenden Buch über diese Frühzeit freier Mediennutzung mit eigenen Produktionsmitteln ist bei Video Data Bank online: „Attention! Production! Audience — Performing Video in the First Decade, 1968-1980“ von Chris Hill (PDF):

„The revisiting of that period through an historical survey is, in part, an effort to link the cultural insights and strategies of portable video’s first decade with the present conditions for producing media culture. Attention to the video projects of the late ’60s and ’70s, those surveyed in this project and others yet to be rediscovered, is timely in view of the advent of international media hardware and software expansion and new decentralized multi-media networks. The democratic use of these tools can only be realized with considerable efforts toward widespread media literacy, a necessary extension of basic reading and writing skills.“ (Chris Hill)

Das Ganze kostet leider $ 1.500, – und ist nur für Institutionen bezahlbar.


Red Avocado

16. Juli 2009

Ein neues Label aus Deutschland widmet sich dem Experimentalfilm, vor allem solchen, die so selten sind wie rote Avocados. Red Avocado hat bisher zwei DVDs mit Filmen von Bastian Clevé („Journeys“) und von Paul Winkler (Australian Icons) herausgebracht. Clips auf der Website geben einen Eindruck von den rhytmischen Werken, die man sonst nur selten zu sehen bekommt.

Als nächste Titel in der Reihe sind geplant:


The World of Kanai Katsu

8. Juni 2009

Der japanische Experimentalfilmer und Regisseur der neuen Welle in den 60ern Kana Kaitsu hat seine Filme auf DVD herausgebracht (mit engl. Untertiteln). In Deutschland wurden einige seiner Werke 2007 auf den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen gezeigt:

„Kanai Katsu, von Beruf her Kameramann, ist einer der großen eklektischen Exzentriker des japanischen Kinos: Beginnend 1969 mit Mujin retto(The Desert Archipelago) schuf Kanai in drei Werkschüben ein schmales, fast nur aus kurzen und mittellangen Filmen bzw. Videos bestehendes Kino-Oeuvre.

Kanai ist ein wild-wüster, verschmitzter Visionär, ein Bilderstürmer/-schöpfer, in dessen Schaffen sich klassische und kontemporäre Künste, Pop- und Hochkultur aus der eigenen Welt wie dem Westen fröhlich durchdringen – Arrabal’eske Exzesse treffen auf die fokussierte Körperlichkeit des butô, politische Anliegen werden manga-knallig artikuliert… Der Titel einer seiner schönsten Filme sagt schon alles: Yume hashiru(Dream Running).“ (Programm Kurzfilmtage Oberhausen)

Die limitierte DVD-Edition „The World of Kana Kaitsu von nur 500 Exemplaren enthält auf 5 DVDs sein gesamtes Werk und kann bei ihm selbst in Japan bestellt werden:

„… but in 1968 he founded his own company, Kanai Katsumaru Production and in the next few years he ade a trilogy of films that would fascinate, confuse and shock the cinematic establishment. Influenced by his interests in existential philosophy and surrealism Katsu’s „Smiling Milky Way Trilogy“, made up of 1969’s „The Desert Archipelago“ (above), 1971’s „Good-bye“, and 1973’s „The Kingdom“, would end up receiving praise from the likes of film scholars Max Tessier and Tony Rayns and would win honours at the Nyon International Film Festival where „The Desert Archipelago“, about a man raised by nuns, would take home the Grand Prix in 1969. In more recent years Katsu has split his time between teaching at both Tokyo Zokei University and the Image Forum Institute of the Moving Image and making short surreal films based on the Japanese poetic forms of tanka and haiku.

Despite his influence and critical success Katsu’s works have never gained the same kind of mainstream acknowledgement as his avant-garde peer Shuji Terayama, but now Katsu himself has assembled his entire filmography into a limited edition 5-disc DVD set titled „The World of Kanai Katsu“ that’s he’s selling through his personal website for ¥20,000 yen a copy (roughly $230.00 CAD). It might seem steep, but not only are these discs region free, but they all have English subtitles! For something this rare I think that’s a deal. (J-FilmpPow-wow)


Michel Gondry 2

15. April 2009

Wie DVDuell berichtet, hat Michel Gondry nach seiner ersten DVD auf dem Directors Label von Palm Pictures nun eine zweite Disc mit weiteren Musikvideos veröffentlicht. Michel Gondry 2: More Videos (Before and After DVD 1)“ läßt uns an weiteren genialen Werken dieser Bildopern der Popmusik teilhaben:

„Michel Gondry’s music videos feel as if they’ve been downloaded directly from his subconscious. Sometimes, they play like perfectly reconstructed dreams; at other times, they are pure, childlike invention; unfailingly, they are a reminder that Gondry is one of the most rambunctiously talented filmmakers working today.“ (Ain’it Cool News, 14.4.2009 mit einem Interview des Regisseurs)


Avant-Garde 1927-1937

24. Januar 2009

Seltene belgische Avantgardefilme der zwanziger und dreißiger Jahre sind jetzt auf DVD erschienen. Cinematek – unter diesem neuen Namen firmiert jetzt die renommierte Cinémathèque Royale de Belgique – hat mit der Doppeldisc-Edition Avant-Garde 1927-1937 zum ersten Mal das frühe experimentelle Werk der beiden bedeutenden belgischen Dokumentaristen Henri Storck – er gründete das Filmarchiv in Brüssel – und Charles Dekeukeleire auf DVD zugänglich gemacht. Ihre Recherchen zum cinéma pur betrieben sie im Umkreis der Surrealisten Henri d’Ursel und Ernst Moerman, von denen auch je ein Film in dieser Edition enthalten ist.

Neu vertont haben die Filme Joachim Brackx, Eric Sleichim, Jan Van Outryve, Annelies Van Parys (zu Gast bei Transparant), Mireille Capelle, Geert Callaert und Thomas Smetryns, zu Gast beim Ensemble HERMES, das unter Leitung von Koen Kessels auch die Einspielung besorgt hat. Im Beiheft gibt es einen Essay von Xavier Canonne über die stürmische Entwicklung der Jahre 1927 bis 1937. Alle Filme sind englisch untertitelt und bei Cinematek direkt oder hier bestellbar.


Treasures IV: American Avant-Garde Film

7. Oktober 2008

Aus der renommierten DVD-Reihe „Treasures from the Archives“ ist der 4. Teil „American Avant-Garde Film, 1947 -1986“ jetzt für den 3. März 2009 angekündigt worden. Die ausgewählten 26 Filme wurden von folgenden amerikanischen Filmarchiven restauriert: Academy of Motion Picture Arts and Sciences, Anthology Film Archives, Museum of Modern Art, New York Public Library und dem Pacific Film Archive. Der Reinerlös kommt der Arbeit der Filmarchive zu Gute:

The five-hour set samples an array of film types and styles, from abstract animation to documentary. Showcasing classics as well as rediscoveries, Treasures IV includes Hollis Frampton’s (nostalgia); The Riddle of Lumen by Stan Brakhage; Go! Go! Go!, Marie Menken’s love note to New York City; Fog Line by Larry Gottheim; New Improved Institutional Quality by Owen Land; Andy Warhol’s drag queen portrait Mario Banana (No. 1); Ken Jacob’s Little Stabs at Happiness and Ron Rice’s Chumlum, both with Jack Smith; and The End, Christopher Maclaine’s Beat meditation on the bomb; as well as works by Bruce Baillie, Wallace Berman, Robert Breer, Shirley Clarke, Joseph Cornell, Storm De Hirsch, Lawrence Jordan, George Kuchar, Standish Lawder, Saul Levine, Jonas Mekas, Robert Nelson and William T. Wiley, Pat O’Neill, Paul Sharits, Jane Conger Belson Shimane, Harry Smith, and Chick Strand. Treasures IV is the first anthology of the period available on DVD.“ (Presseerklärung)

Die Edition schließt chronologisch an die DVD-Ausgabe „Unseen Cinema – Early American Avant-Garde Film 1894-1941“ an.


Joris Ivens DVD-Box

14. Juni 2008

Am 18. November 2008, dem 110. Geburtstag des niederländischen Dokumentaristen Joris Ivens erscheint die lang angekündigte DVD-Box der Europese Stichting (European Foundation) Joris Ivens, die den Nachlass dieses Chronisten des zwanzigsten Jahrhunderts verwaltet. Joris Ivens hat fast sein ganzes Leben lang (1898-1989) Filme gemacht, von 1928 bis zu seinem Tod. Sein Werk ist auch ein Dokument der künstlerischen und politischen Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts, vom Avantgardismus der Zwanziger Jahre bis zu den sozialistischen Bewegungen mit ihren Höhepunkten und ihren katastrophalen Irrtümern – sein letzter Film hieß „Die Geschichte über den Wind„:

„Der alte Mann „hat das 20. Jahrhundert durchquert, getrieben vom Wind der Geschichte. Er hat alle Kriege, die er filmte, überlebt“ — den Spanischen Bürgerkrieg, den japanischen Einfall in China, den Krieg im Pazifik, den Vietnamkrieg — „er hat seine Freunde für ihre Ideen sterben sehen, die Völker sich erheben, und er hat gesehen, wie die revolutionären Führer zu Despoten wurden.“ Der alte Mann: Joris Ivens. „Mehr als einmal hat ihn der Wind an die Wand gedrückt.“ Der Text im Vorspann: resigniert und milde. „Im Alter von neunzig Jahren regt sich ein anderer Wind.“…

„Die Masken, die Mauern, die Statuen: Ivens ist unfrei in diesem Land, gefangen in seinem Traum von China. Seit sechzig Jahren hat er Dokumentarfilme gedreht, darunter einige der besten, die es überhaupt gibt: über Brücken, Fabriken, Bergwerke, den Regen, den Wind, den Krieg. „Eine Geschichte über den Wind“ ist nur ein Fernsehfeuilleton. Überall Reminiszenzen: an Melies, an Eisenstein, an sich selbst. Das ist rührend und schön, aber auch harmlos. Ein Film über China sei dazu verurteilt, schon nach einem Jahr veraltet zu sein, sagt Ivens. Wie wahr. Viel zu spät kommt dieser Film in unsere Kinos. Oder viel zu früh.“ (Andreas Kilb: Der alte Mann und der Wind. DIE ZEIT, Ausgabe 27, 1989)

„Ein Film über China sei dazu verurteilt, schon nach einem Jahr veraltet zu sein… “ – das stimmt: Joris Ivens würde China heute nicht mehr wiedererkennen, z. B. in dem Film „Manufactured Landscapes“, der die aktuelle Industrialisierung des Landes in aller Härte beschreibt – wie dort u. a.  am Dreischluchtenstaudamm heute „Berge versetzt“ werden – auch eine Art „Heldenlied“ (zu diesem Film von Joris Ivens siehe auch „Magnitogorsk – Forging the New Man“ von Pieter Jan Smit).

Die DVD-Box wird zwanzig seiner bedeutendsten Werke enthalten, die seit zwei Jahren sorgfältig restauriert worden sind (siehe: Joris Ivens Digital: Some practical experiences with the production of the Joris Ivens DVD boxset).

Die Cinemathèque Française in Paris und das Museum of Modern Art in New York werden anlässlich der DVD-Edition Retrospektiven seiner Werke veranstalten. Die Filmsammlung des MOMA war von Iris Barry aus demselben Geist heraus aufgebaut worden, in dem Joris Ivens seine Arbeit Ende der Zwanziger Jahre begonnen hatte.